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Über
Asal Dardan
Erika Mann
Lecture
2023

Vortrag von Asal Dardan

Erika-Mann-Lecture 2023: Stephan Höck, Fotografie

Vor dem Dunkel, ausgerechnet Wir

Erika Mann Lecture,
Ludwig-Maximilians-Universität,
10. Mai 2023

 

Ich hätte diese Erika Mann gewidmete Lecture bereits im Dezember halten sollen. Der Termin wurde verschoben und nun stehe ich also am 10. Mai in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität vor Ihnen – auf den Tag genau 90 Jahre, nachdem Studierende dieser Uni die Verbrennung von Büchern auf dem Königsplatz organisiert und durchgeführt haben. Andere Münchner*innen schauten zu und applaudierten.

Einer der Hauptverantwortlichen dieser Bücherverbrennung war der 28-jährige Hitlerjugend-Gebietsführer von Oberbayern. Er war einer jener, die die Werke von jüdischen Autor*innen und Wissenschaftler*innen, aber auch von Anarchist*innen, Kommunist*innen, Pazifist*innen und Demokrat*innen vernichten wollten – es wäre leichter gewesen zu sagen: von allen, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen. Sein Name war Emil Klein, er war bloß knapp einen Monat jünger als Erika Mann. Als er der NSDAP 1920, dem Jahr ihrer Gründung, beitrat, war er 15 Jahre alt. Er war später maßgeblich am Pogrom vom 9. November 1938 gegen jüdische Menschen in München beteiligt. Ab 1943 leitete er den Politischen Stab im Bayerischen Kultusministerium.

Bereits am 6. Mai hatte Emil Klein eine Ansprache auf dem Königsplatz gehalten, nämlich bei einer anderen Bücherverbrennung, bei der hauptsächlich marxistische Werke zerstört wurden. Der zweite Sprecher war der Lehrer und Stadtschulrat Josef Bauer, ein konservativer Bildungsbürger Anfang 50 und ein frühes Mitglied der NSDAP. Von 1933 bis 1937 war er Vorsitzender des Bayerischen Lehrervereins, dann bis 1945 Leiter des Münchner Stadtjugendamtes. Außerdem war er SS-Brigadeführer.

Diese beiden Männer waren keine berühmten, mächtigen Politiker. Sie waren schlicht vom ersten bis zum letzten Moment aktive Nationalsozialisten. Sie stehen exemplarisch für das, was die nationalsozialistische Bildungs- und Kulturpolitik ausmachte. Bauer wirkte daran mit, dass die folgenden Generationen so wurden wie der jüngere Klein: deutsche Menschen, die nichts weiter als ein Nazileben kennen sollten. Erika Mann hatte all dies bereits 1938 in School for Barbarians über die Erziehung der Jugend im 3. Reich auf sehr eindrückliche Weise beschrieben. Dennoch sollte nach Kriegsende jahrzehntelang debattiert werden, ob es sich tatsächlich alles so zugetragen hat. So als seien die Menschen, die dieses System getragen und ausgemacht hatten, plötzlich vom Erdboden verschwunden. Bauer und Klein starben jedenfalls beide in München, der eine im April 1958, der andere im Februar 2010 im Alter von 104 Jahren. Ein Leben, länger als die Zeitspanne, die uns vom 10. Mai 1933 trennt.

Als die beiden sich aufmachten, Feuersprüche zu rufen und unter anderem Bücher der Familie Mann auf den Scheiterhaufen zu werfen, war Erika Mann schon nicht mehr in Deutschland. In dem ebenfalls 1938 mit ihrem Bruder Klaus verfassten Buch Escape To Life antwortet sie auf die Frage, ob es ein schwerer, bitterer Entschluss gewesen sei, Deutschland zu verlassen: „Nein, es war nicht bitter. Bitter war, daß das Hakenkreuz herrschte. Wo es aber herrschte, konnte man nicht bleiben. Wegzugehen war nicht bitter.“

 

 

Diesen Moment, in dem sie einsah, dass sie nicht in einem nationalsozialistischen Land leben konnte und wollte, diese Entscheidung, lohnt es zu unterstreichen. Sie war – wie wir eingangs in ihren eigenen Worten hörten – bis kurz vor der so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht sonderlich an Politik interessiert. Sie war ein Kind aus prominentem, großbürgerlichem Hause, eine junge Schauspielerin in der Großstadt, eine abenteuerlustige Rennfahrerin und Weltenbummlerin. Ihr war egal, was Menschen von ihr hielten, sie musste niemandem gefallen. Gleichzeitig hielt sie sich fern von Dingen, die ihr nicht gefielen, allzu weltlichen, allzu wirklichen Dingen.

Der irische Schriftsteller Colm Tóibín sieht gerade in ihrer Verspieltheit und Libertinage den Ursprung ihrer späteren politischen Klarheit. So schreibt er in der London Review of Books über das Geschwisterpaar Erika und Klaus: “It was their silliness that made them serious. Once the right to go on being silly was threatened, they would respond with considerable urgency and earnestness.”

Im Januar 1933 gründete Erika Mann hier in München ein politisches Kabarett, das ein breites Publikum mit Witz und Hintersinn auf die große faschistische Gefahr aufmerksam machen wollte. Das Ensemble der Pfeffermühle agierte mit Vorsicht und doch mit spitzer Zunge, arbeitete mit Märchen und Parabeln, die in ihrer Botschaft allerdings unmissverständlich waren. Die Vorsicht half nicht, denn Erika Mann wurde auch so als Hetzerin und Zersetzerin beschimpft. Nach der erfolgreichen Premiere war allerdings Schluss. Einen Monat später brannte der Reichstag. Das Ensemble wusste: die Pfeffermühle konnte nur im Ausland weitermachen. Im Exil würde Erika Mann schreiben: „Viel zu spät haben wir unsere Kräfte gegen ihn [also Hitler] gespannt, unsere viel zu schwachen Kräfte.“ Mit Wir meinte sie vor allem die Intellektuellen, die Autor*innen, die Künstler*innen, die Theatermacher*innen.

Wie schwach diese Kräfte waren, also ob die Kulturarbeitenden der Weimarer Republik tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätten, als solche wirkungsvoll Widerstand zu leisten – wer weiß das schon? Wer weiß schon, ob Satire und Witz mehr als nur den eigenen Verstand retten, ob Literatur und Kunst mehr als nur flüchtige Eingebungen und Emotionen wecken.
Aber sie sind es, die meist als erstes angegriffen werden, die als erstes zensiert und zerstört werden. Als Autorin bin ich davon überzeugt, dass ihre Macher*innen damit auch zu den ersten gehören sollten, die sich einsetzen, sich zur Wehr setzen, die eine Entscheidung treffen.

Aus diesem Grund gruselt es mich, dass die deutschsprachige Kabarett- und Comedy-Landschaft, noch nicht einmal versucht, sich dem ambivalenten Erbe der Weimarer Zeit anzunehmen. Stattdessen werden ausgerechnet jene Gruppen, die bereits damals entmenschlicht und verhöhnt wurden, wieder zum Gegenstand ihrer Programme. Wir hören Witze über jüdische Menschen, über queere und rassifizierte Menschen, über Menschen mit Behinderungen. Es sind Witze über Minderheiten, über die diese Minderheiten selbst nicht lachen können. Und doch sollen wir glauben, dass dies etwas völlig anderes sei, dass es heute im Namen der Meinungsfreiheit und Demokratie geschehe, dass das doch die wahre Pluralität sei. Absurd und skandalös ist nicht, dass sie sich auf diese Weise zu verteidigen suchen. Absurd und skandalös ist, dass sie damit durchkommen.

 

 

Erika Mann sah, wie wir eingangs hörten, den Mangel an Vorstellungskraft, die zu lange währende Ignoranz und Gleichgültigkeit, als Verbrechen und Sündenfall. Der Philosoph Karl Jaspers, der zwei Jahre nach Kriegsende gemeinsam mit seiner jüdischen Ehefrau Gertrud Mayer aus Deutschland auswanderte, sprach auf sehr ähnliche Weise über diese – wie er es nannte – moralische Schuld. Jaspers zufolge trugen auch Menschen, die nicht im politischen oder juristischen Sinne schuldig waren, eine Mitschuld durch ihr Desinteresse an der Bedrohung anderer. Er sprach von einer Nachlässigkeit, die Bedrohten zu schützen, von einer „Phantasielosigkeit des Herzens“ und „inneren Unbetroffenheit von dem gesehenen Unheil“.

Erika Mann ließ die Fantasie irgendwann doch zu, ließ zu, sich betroffen zu fühlen. Selbstverständlich war sie es allein durch die jüdische Familie ihrer Mutter, etwas, das sie nicht thematisierte, weshalb ich nicht sagen kann, welche Bedeutung dieser Teil ihrer Herkunft für sie hatte. Sie fühlte sich als Künstlerin betroffen und nutzte das Exil, um als solche Widerstand zu leisten. Sie tat es, indem sie an ihrem Lebensstil festhielt, aber das, was ihr ohnehin lag, von nun an mit politischem und moralischem Anspruch verfolgte. Als es noch möglich war, zwischen den Kontinenten zu reisen, verbrachte sie die Sommer in Europa, um im Winter in hunderten Lectures überall in den USA über die Situation in Deutschland aufzuklären. Sie konnte es, es war ihr möglich – und doch ist es auch eine immense Hingabe, eine weitere Entscheidung, die eigene Zeit und Arbeit, die eigenen Ressourcen, den eigenen Körper für ein politisches Ziel einzusetzen. Sie war davon überzeugt, irgendwann sind die Deutschen besiegt. Bis dahin würde sie nicht aufhören, ihren Teil, ihren kleinen Teil, dazu beizutragen.

Nach Kriegsende hat sie Deutschland zwar immer mal wieder besucht – als Kriegsreporterin in US-Armeeuniform, als britische Staatsangehörige, die vom Nürnberger Prozess berichtete, als Reisebegleiterin ihrer Eltern. Aber sie ist nie wieder ganz zurückgekehrt, auch nicht in ihre geliebte Geburtsstadt München. Sie wurde, soweit ich weiß, auch niemals eingeladen, zurückzukommen. Und in gewisser Weise fühle ich mich etwas unwohl damit, hier zu stehen und daran beteiligt zu sein, dass man sie nun posthum zurückholt und für sich beansprucht. Menschen im Exil möchten nicht immer zurückkehren an den Ort, der sie in die Flucht trieb, der ihre moralische Integrität, ihre Sicherheit, ihre Freiheit, ihre Lebensgrundlagen bedrohte.

An dieser Stelle muss ich in die Gegenwart blicken, konkret und auch persönlich werden. Seit dem brutalen Mord an der Kurdin Jina Amini, seit der neuen revolutionären Bewegung im Iran, frage ich mich, ob ich überhaupt ein Anrecht habe, mich mit dem Land meiner Geburt und seinen Menschen in Verbindung zu bringen, indem ich die Rolle einer iranischen Exilantin spiele. Vor einigen Monaten saß ich auf einer großen Bühne mit anderen, die in Deutschland leben und eine biografische Verbindung zum Iran haben und fühlte mich deplatziert und anmaßend. Und auch verzweifelt, weil es dort sehr viel um diplomatische Strategien und politische Erwägungen ging und immer weniger um Werte und ich merkte, dass ich mich als Autorin schrecklich reduziert fühlte auf eine naiv wirkende Position, die zusammengefasst wohl lautet: Wenn eine Grenze erreicht ist, dann ist sie erreicht.

Ich ging von der Bühne, rang mit meiner Eitelkeit und meinem schlechten Gewissen und sagte mir, dass ich nie wieder über Politik reden wollte. Erika Mann, so scheint mir, hat sich für diese vermeintliche Naivität nicht geschämt. So werden wir es im Anschluss in einer Passage ihrer autobiografischen Notizen Ausgerechnet Ich hören, die Wiebke Puls vorlesen wird. Und vielleicht ist, im großen Kontext der Menschheitsgeschichte, die aufgeklärte Einsicht doch, dass man mit Mördern nicht verhandelt.

Ich rede hier also doch über Politik und auch über den Iran, weil letzte Woche der Schwede Habib Chaab vom iranischen Terrorregime hingerichtet wurde. Er lebte 14 Jahre in Schweden, er hat dort Kinder. Und dann wurde er 2020 bei einer Türkeireise entführt und in einem Schauprozess im Iran zum Tode verurteilt. Er wurde ermordet. Dasselbe droht nun dem Deutschen Jamshid Sharmahd. Er wurde im selben Jahr wie Chaab entführt, da war er in Dubai. Seine Tochter Gazelle Sharmahd setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass sein Leben gerettet wird, sie fühlt sich dabei nicht ausreichend vom deutschen Staat unterstützt. Sie unterstreicht, dass ihr Vater kein Deutsch-Iraner ist, nicht so genannt werden soll, bloß weil er im Iran zur Welt kam. Er hat das Land mit sieben Jahren verlassen, ist hier aufgewachsen, hat keine iranischen Papiere. Jamshid Sharmahd darf von seinem Staat nicht im Stich gelassen werden, so wie Habib Chaab von seinem im Stich gelassen wurde. Ein Menschenleben muss mehr zählen als Handelsbeziehungen. Die Realität eines jeden Lebens zählt.

Ich möchte Erika Mann, die tatsächlich auch für das Nachkriegsdeutschland sehr wenig übrighatte, den Gefallen tun, das Nachdenken über sie und das Denken mit ihr nicht glatter und geschmeidiger zu machen als es ihr und anderen Exilant*innen gebührt. Das ist eine widerständige Arbeit, weil das, was wir Erinnerungskultur nennen, oftmals zu dieser Glättung verleitet. Es gilt, aus der Vergangenheit zu lernen und weil mit Lernen eindeutiges Wissen und eindeutige Lehren verbunden werden, ist es oftmals eben recht eindeutig, eindringlich, eindimensional.

Zwei Beispiele, die mir einfallen, sind ein 2022 veröffentlichtes Kinderbuch, das die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger zur Heldin einer Geschichte mit dem zuckrigen Untertitel „Wie ein kleines Mädchen mit Glück und Gedichten am Leben blieb“ macht. Und eine Lesung aus dem letzten Interviewbuch der Musikerin und antifaschistischen Aktivistin Esther Bejarano, bei der ein Jahr nach ihrem Tod im Sommer 2021 u. a. die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit einem rechtsradikalen Sänger und einem mit rassistischen, anti-muslimischen Stereotypen arbeitenden Psychologen auf der Bühne sitzen sollte.

Klüger und Bejarano waren zwei Frauen, die wie Erika Mann nicht glatt und geschmeidig und auch nicht versöhnlich waren, schon gar nicht im Angesicht ihres politischen Gegners. Für sie gab es, und ich zitiere erneut aus Escape to Life: „keine Versöhnlichkeit mit jenen, die im Grunde nur den Krieg wollen“. Zum Pazifismus, so steht dort weiter, gehöre nicht nur Sanftheit, sondern auch Mut.

Erika Mann hatte zum Beispiel den Mut, ihrem verehrten Vater ein Ultimatum zu stellen: Sie würde den Kontakt abbrechen, wenn er weiterhin den zögernden, unpolitischen Künstler geben würde, statt sich offen gegen die Nazimachthaber auszusprechen und zur Emigration zu bekennen. Esther Bejarano hatte zum Beispiel den Mut, sich auch noch mit 79 Jahren den Wasserwerfern der Hamburger Polizei entgegenzustellen, weil diese ihren Protest gegen einen Naziaufmarsch auflösen wollte. Ruth Klüger hatte zum Beispiel den Mut, ihren Angriff gegen die Kontinuitäten des deutschen Kanons auch ins Private zu verlegen und öffentlich mit ihrem langjährigen Freund Martin Walser zu brechen, als er einen Roman schrieb, der, wie sie sagte, „bösartig und antisemitisch“ war und „aus bitteren, bösen Quellen“ schöpfte. Quellen übrigens, das zeigte Ruth Klüger in ihrer literaturkritischen Arbeit, aus denen auch Thomas Manns Doktor Faustus, 1947 also nach dem Krieg veröffentlicht, schöpfte.

Das sind drei anekdotische Momente im Leben dieser drei Personen. Sie waren in anderen Fällen noch mutiger und lagen in anderen bestimmt auch einmal falsch. Ihre prinzipielle Haltung aber, ihr Anliegen, galt der Verteidigung des Lebens – nicht nur ihres eigenen, sondern des Lebens an sich. Wofür sie sich einsetzten, war niemals das Spiegelbild dessen, gegen das sie sich widersetzten.

Das ist ein kritischer Punkt, wenn man auf Gewalt und Widerstand gegen Gewalt blickt. Zu oft wird gleichgesetzt, was niemals gleich ist. Weil verschleiert oder auch nicht erkannt wird, dass die Inhalte, Visionen und Ziele der einen, die Menschen schützen und stärken möchten, in einem absoluten Widerspruch zu den Inhalten, Visionen und Zielen der anderen stehen, die Menschenleben regulieren, kategorisieren und im drastischsten Fall vernichten wollen. In der Politik geht es schließlich um Visionen und ihre Durchsetzung, auch wenn häufig mit Haltungsnoten abgelenkt wird. Wie etwas ausgedrückt wurde, ist dann wichtiger als das Gesagte selbst. Antifaschismus wird zu Faschismus erklärt und Emanzipation zur Diktatur. Und ich weiß zwar, dass Widerstand nie eine Sache der Mitte und der Norm sein wird, dennoch frage ich mich, weshalb solche Formen persönlicher Integrität gesellschaftlich meist erst im Rückblick Anerkennung finden, während sie in der Gegenwart skandalisiert, kriminalisiert und auf übertriebene Regungen in einem Kampf zweier extremer Seiten, zweier vergleichbarer Kontrahenten, zweier Gräben reduziert werden. Die drei Frauen, von denen ich spreche, wussten es besser.

Klüger und Bejarano waren jünger als Erika Mann, sie waren als Jugendliche in deutschen Konzentrationslagern. Sie hatten Familienmitglieder – Geschwister und Eltern – die ermordet wurden, weil sie jüdisch waren. Allen direkten jüdischen Familienmitgliedern Erika Manns, den Geschwistern ihrer Mutter und ihre eigenen Cousins und Cousinen, gelang, soweit bekannt, die Flucht. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass auch Esther Bejaranos Eltern Deutschland verlassen wollten und mehrmals versuchten, zu fliehen. Aus bürokratischen Gründen gelang diese Flucht weder in die USA noch in die Schweiz. Ihre Leben, wie die Leben so vieler im Stich gelassener Flüchtender, hätte gerettet werden können.

Klüger und Bejarano hatten erlebt und bezeugt, woran die Denkmäler und Mahnmale in diesem Land erinnern sollen. Allein, dass sie heute stehen und von einer Mehrheit, von einem vermeintlichen Wir, akzeptiert und als wichtig betrachtet werden, ist Überlebenden und Aktivist*innen zu verdanken. Unter anderem erinnern sie also an die Bücher, die Menschen auf die mindestens 93 Scheiterhaufen in über 70 deutschen Städten warfen. Hierfür steht das Mahnmal am Königsplatz, das dort seit 2021 – erst seit 2021 – alle Titel der Schwarzen Liste zeigt, also jener Bücher, die verbrannt wurden. Oder das Denkmal auf dem Berliner Bebelplatz, das eine Inschrift mit dem berühmten Heinrich-Heine-Zitat trägt: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
Der Satz stammt aus Heines 1821 veröffentlichter Tragödie Almansor, gesprochen wird es von seiner Figur Hassan als Reaktion auf die Nachricht, dass die Konquistadoren in Granada den Koran in die Flammen eines Scheiterhaufens geworfen haben. Der Koran wird immer noch verbrannt, zuletzt im Januar in Schweden, wo ich wohne. Ein dänischer Rechtsradikaler stellte sich vor der türkischen Botschaft in Stockholm vor TV-Kameras auf, redete lang über seine Vorstellungen über den Islam und Migrant*innen und hielt dann sein Feuerzeug an ein Buch. Solche Aktionen werden abgetan als verwirrte Momente psychisch kranker Einzelpersonen, die nicht bedrohlich seien, da sie schließlich keine Staatsmacht repräsentierten. Es gibt jedoch Parteien und Politiker*innen, die sich zwar öffentlich niemals völlig gemein machen würden mit diesen Taten, die aber die Räume für sie öffnen. Manchmal tun sie es aus ideologischen Gründen oder aus purem Zynismus und Machtwillen, andere Male ist es eine Überforderung, ein Mangel an Vorstellungskraft, wie die Wirklichkeit anderer aussieht. Vor fünf Tagen hat Michel Friedman anlässlich des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im österreichischen Parlament den Mut bewiesen, genau das auszusprechen, als er sagte, ein „Wehret den Anfängen“ bedeute in einem Hause, in dem eine Koalition mit einer anti-demokratischen Partei eingegangen werde, nicht viel.

Um auch über Deutschland zu reden: Mich stößt es zutiefst ab, dass die CDU es nach dem politischen Attentat auf Walter Lübcke, diesem ungeheuerlichen Mord, nicht schafft, ihren Parteikollegen und seine Arbeit angemessen zu würdigen. Nicht, indem man ihn mal in einer Rede erwähnt oder ihm ein Denkmal baut, sondern indem man die Vertreter*innen jener Ideologie, die zu seinem Mord führte, konsequent und auch in der eigenen Partei bekämpft. Der CDU-Parteivorsitzende Merz und auch der neue Berliner Bürgermeister Wegner – unter anderem – spielen hingegen für Wählerstimmen weiter mit dem Feuer, verbreiten ausgrenzende und rassistische Vorstellungen, als seien es nicht genau diese Vorstellungen, die eine Rolle bei Lübckes Ermordung oder etwa auch beim Attentat in Hanau gespielt hätten.

Eine für Erika Mann zentrale Frage war, wie man den Unterschied zwischen Wissen und Sich-Vorstellen-Können überwindet. Wir wissen beispielsweise von dem, was uns mit der Vergangenheit verbindet, wie Vergangenes uns heimsuchen, sich in anderer Form wieder zeigen und aufrichten kann. Das sind so Sätze, die gemeinhin fallen. Und dann folgt schon seit Jahrzehnten: Nie wieder. Selbst die angesichts der Gegenwart anklagende Infragestellung des Nie-Wieder gehört bereits seit Jahren zum Ritual dazu.

Ich wünschte, es wäre so, dass alle Menschen, die diesen Ausspruch bemühen, die über das Wissen verfügen, weshalb er so wichtig ist, es tun, weil sie die Bedrohung einer Wiederkehr erkennen. Also, dass sie die Bedrohung konkret spüren, sich sagen, dass es sie und ihre Wirklichkeit betrifft. Dass sie wissen, dass nie wieder nicht bloß gesagt, sondern gelebt werden muss. Ich wünschte, sie alle hätten diese Vorstellungskraft, diesen moralischen Elan. Elie Wiesel sagte in einem Gespräch mit Jorge Semprún, das sie Ende der 1990er führten: „Alles sollte in die Gegenwart, in die Wirklichkeit geholt werden.“ Aus diesem Grund möchte ich fragen: Was ist verlorengegangen in den Flammen der Scheiterhaufen?

Es waren Schriften, die für eine Vielfalt standen, die verfolgt und vernichtet werden würde. Eine Vielfalt, die nach der Niederlage der Deutschen nicht einfach wieder da war, zurückkam, zum Leben erwachte. Weil die Menschen, die sie ausmachten, nicht mehr da waren. Im besten Fall hatten sie fliehen können und entschieden sich dann oft, nicht zurückzukehren – so wie Erika Mann. Aber Millionen wurden gejagt, deportiert, erschossen, erschlagen, zu Tode geschunden, gefoltert, vergewaltigt, vergast, verbrannt. Mit den brennenden Büchern wurden zwar noch keine Menschen ermordet, aber ihre Gedanken und ihre Lebensweise, ihre Identität und ihr Sein wurden angegriffen und zum Feind erklärt. Menschen wurden zu Körpern gemacht und ihre Körper wurden nach ideologischen Kriterien unterschieden, ganz gleich, was diese Menschen selbst über sich und ihre Körper und ihre Leben dachten. Mit diesen Unterscheidungen führten Lügen über den Wert, die Würde und die Lebensberechtigung dieser Körper und also dieser Menschen zu einer tödlichen Politik und Praxis.

In Berlin-Schöneberg, wo ich wohne, in der Münchner Straße zufällig, steht ein Denkmal für eine Synagoge, die während des Novemberpogroms verschont blieb. Sie überstand den Krieg, allerdings entweiht und beschädigt. In den 1950er Jahren wurde sie abgerissen, weil es keinen Bedarf für sie gab. Das Denkmal gilt also nicht nur den Folgen der Gewalt, die Menschen geschehen ließen und nicht aufhielten. An der sie sich beteiligten. Es gilt auch der Kontinuität.

Ein weiterer Zufall, eine weitere Kontinuität in diesem Land: Das hier in München stehende Denkmal, das den neun Opfern des OEZ-Anschlags vom 22. Juli 2016 gewidmet ist, steht in der Hanauer Straße. In Hanau wurden am 19. Februar 2020 ebenfalls neun Menschen in einem ebenfalls rassistisch motivierten Anschlag erschossen. Das ihnen gewidmete Mahnmal soll auf dem Hanauer Marktplatz stehen, aber die Stadtverordnetenversammlung blockiert das Vorhaben, weil dort ja bereits das Nationaldenkmal der Brüder Grimm steht.

Gibt es ein anderes Land in Europa, dessen Städtenamen für einen großen Teil der Bevölkerung eine andere Karte entwerfen als für die Mehrheitsgesellschaft? Diese Frage trage ich in mir, seit ich bei einem Abendessen über Dessau sprach und damit Oury Jalloh und Li Yangjie meinte, alle anderen am Tisch jedoch dachten, ich spreche über das Bauhaus. Der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh wurde 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt, die chinesische Studentin Li Yangjie am 13. Mai 2016 von einem Mann sexuell missbraucht und ermordet. Die Mutter und der Stiefvater des Mörders arbeiteten bei der Dessauer Polizei, die diesen Fall ermittelte.

Viele deutsche Städtenamen erinnern nicht nur mich vor allem an Menschen, die aus faschistischen Motiven gejagt und ermordet wurden, nicht mehr nur in Nazideutschland, sondern in unserer geteilten Gegenwart. Ich weiß nicht, was uns wohlfeile Erinnerungsrituale in dieser ständig wachsenden Landkarte des Schreckens bringen sollen, außer Schlaf und Entlastung.

Die Rettung einer Gesellschaft liegt in den Menschen, die sich entscheiden, diesen Kontinuitäten der Gewalt etwas entgegensetzen. Das ist keine Frage des Gutseins oder des Heldentums, sondern eine immer wieder gefällte Entscheidung – im Großen und im Kleinen. Immer wieder, weil der Kampf gegen Regression und Repression, gegen Kriegslust und Machtsucht, gegen Diskriminierung und Destruktion nicht enden wird. Man kann sich entmutigen lassen von der Unwahrscheinlichkeit, dass der Freiheitskampf, der emanzipatorische Kampf, jemals zu einer vollendeten Utopie der Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit führen wird. Darum bewundere ich jene, die nichtsdestotrotz weiterkämpfen im Chaos der Gegenwart, denn jede Gegenwart ist chaotisch, sie trägt noch nicht die Klarheit, die wir ihr, wenn sie zur Vergangenheit wird, überstülpen, sie führt noch in viele Zukünfte – auch solche, die im Rückblick die Fragen aufwerfen werden: Warum hat es so lange gedauert? Oder aber auch: Warum haben wir das zugelassen?

Heute Abend findet parallel zu unserer eine Veranstaltung im NS-Dokumentationszentrum statt, die sich mit der Verbrennung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft beschäftigt. Die Bibliothek wurde bereits am 6. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz vernichtet, das Institut wurde zerstört und aufgelöst. Gegründet wurde es 1919 von Magnus Hirschfeld, der als jüdischer Wissenschaftler ohnehin in Gefahr war, auch ohne Vertreter einer liberalen Sexualwissenschaft zu sein. Er war schon sehr früh Ziel von Hass und Häme, es gab gegen ihn gerichtete antisemitische und schwulenfeindliche Lieder und Karikaturen, es war eine medial geführte Hetzkampagne. Nach einem Vortrag in der Tonhalle hier in München im Jahr 1920 überlebte er einen Anschlag schwer verletzt. Da er zur Zeit der Bücherverbrennungen nicht in Deutschland war, konnte er entkommen. Er starb 1935 im französischen Exil.

Ich möchte über die Bewegung, deren Teil Hirschfeld war, sprechen. Durch die Arbeit von queeren Initiativen, Vereinen und Aktivist*innen hat Hirschfeld in den letzten Jahren eine immer breitere Beachtung gefunden. Er war eine zentrale Figur in der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung, unter anderem als Mitgründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, das mehrmals eine Petition zur Abschaffung des Paragrafen 175 einbrachte, dem Paragrafen, der Homosexualität kriminalisierte und damit die Verfolgung von Menschen legitimierte. 1929 errang das Komitee einen großen Erfolg, als der Strafrechtsausschuss des deutschen Reichstages beschloss, Homosexualität im geplanten neuen Strafgesetzbuch nicht mehr unter Strafe zu stellen. Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Der Paragraf ging nicht mit ihrer Niederlage, tatsächlich abgeschafft wurde er erst im Jahre 1994, Schuldsprüche wurden erst 2017 aufgehoben. Deutschland steht nun mit dem Selbstbestimmungsgesetz vor einem historischen Moment, derzeit sieht es leider so aus, als würde die Regierung regressiven Bestrebungen mehr Gewicht geben als der längst überfälligen Gerechtigkeit für trans Menschen.

In Escape to Life schreiben Erika und Klaus Mann in ihrem Kapitel ‚The Dead‘ über Hirschfeld: „Der sittliche Ernst dieses Forschers stand für jeden gerechten, ernsthaften Beurteiler außer Frage; jede Frivolität lag ihm fern; sein Lebenswerk ist bedeutend und übrigens erfüllt vom Geist einer echten Humanität, einer aktiven Sympathie für alles Menschliche.“

So kritiklos müssen wir nicht auf Hirschfeld blicken, um sein Lebenswerk zu würdigen. Heute sind sowohl seine medizinischen Praktiken wie auch seine wissenschaftlichen Thesen teilweise überholt. Vor allem seine eugenischen Ideen, die illustrieren, dass auch progressive Menschen nicht immer alle Gefahren ihrer Zeit erkennen. Doch Hirschfeld hat durch seine Arbeit gezeigt, dass Variationen von dem, was wir als Norm gesetzt haben, nicht pathologisch sind, dass sie wertfrei betrachtet und gelebt werden sollten. Es fühlt sich für mich absurd an, dass ich den folgenden Satz sage, dass ich den Eindruck habe, dass er heute hier gesagt werden muss: Weder schwule, lesbische und bisexuelle Menschen sind krank, noch sind es intergeschlechtliche, nicht-binäre und trans Menschen. Ich sage das, weil wir in einer Gesellschaft leben, die ein soziales und politisches Klima ermöglicht, die Gesetze mitträgt, durch die Menschen darin beschränkt werden, zu sein und zu leben, wer sie sind. Diese Menschen sind unter anderem auch Kinder und Jugendliche.

Es gibt eine globale Kampagne gegen trans Menschen, die ebenfalls in Deutschland ihre Wurzeln schlägt und behauptet, queere Menschen, insbesondere trans Menschen, seien eine Gefahr. Schauen Sie bloß auf die Diskussion rund um die geplante Lesung in der städtischen Bibliothek in München und wie sich der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns Aiwanger, der Oberbürgermeister Reiter oder der CSU-Generalsekretär Huber äußern über Dragqueens, die im Übrigen weder etwas mit trans Menschen noch mit Frühsexualisierung zu tun haben. Unter Frühsexualisierung verstehe ich nicht das Vorlesen von Büchern über Diversität, sondern etwa die Werbeplakate mit sexualisierten Körpern, die jedes deutsche Stadtbild prägen. Wir sind also nicht sehr weit gekommen und nun droht bereits, dass wir wieder zurückgehen.

Ich möchte noch über eine andere wichtige Figur der Bewegung sprechen, den Verleger Friedrich Radszuweit. Er war im Vorstand des Bundes für Menschenrecht, eine zweite wichtige Gruppe der Bewegung, die sich ebenfalls für die Abschaffung des Paragrafen 175 einsetzte. Außerdem gründete Radszuweit mehrere Zeitschriften für ein Publikum, das wir heute queer nennen würden, zum Beispiel „Das 3. Geschlecht“, mit Texten, die vornehmlich von trans Menschen für trans Menschen geschrieben wurden oder „Die Freundin“, das weltweit erste Magazin für Lesben.

Auch Radszuweit ist ein Vorreiter und doch muss gesagt werden, dass er sich schuldig gemacht hat. Er argumentierte etwa, dass die Rolle des SA-Stabschefs Ernst Röhm ein klarer Beweis dafür sei, dass die NSDAP trotz ihrer Propaganda keine homofeindliche Politik betreiben würde. Zugleich kritisierte er Hirschfeld immer wieder, wurde immer gehässiger und schärfer. Das hatte wohl nicht nur ideologische Gründe, weil Hirschfeld ein Sozialist war, sondern baute auch auf persönlichen Animositäten auf. Während also Erika Mann und Ruth Klüger das Politische nicht aus Beziehungen und Freundschaften heraushielten, suchte er einen politischen Drehpunkt für eine private Abneigung. Zum Beispiel machte er sich über den Münchner Anschlag lustig und behauptete, dass Hirschfeld der Bewegung durch seine öffentlich zur Schau gestellte Perversität schade. Er grenzte sich nicht nur von ihm ab, sondern rückte auch politisch immer weiter nach rechts. Da Radszuweit noch vor der Bücherverbrennung im Jahre 1932 starb, ist schwer zu sagen, ob und wann er seinen Fehler eingesehen hätte. Radszuweit fiel jedenfalls in die Falle der Verharmlosung und Kollaboration. Ihm war wichtig, öffentlich zu zeigen, dass er ein, wie er es ausdrückte, „anständiger Staatsbürger“ war. Akzeptanz war ihm wichtiger als Solidarität.

Das ist ein abgegriffenes Wort, Solidarität, und gleichzeitig mag ich, wofür es steht. Ich verstehe es nicht als Beschreibung eines Affekts, so wie ich Empathie oder Mitgefühl verstehe. Solidarität ist meiner Ansicht nach ein nicht endendes Projekt, das ohne andere nicht funktioniert, das ebenso Selbstdisziplin wie Zusammenarbeit erfordert. Bevor ich protestantisch klinge: Es bedeutet auch eine Entscheidung zu treffen für das Ungestüme, Ungewisse, nicht zu Ordnende des Lebendigen und des Menschlichen. In diesem solidarischen Suchen nach den anderen, nach ihren Wirklichkeiten, liegt die Gewissheit, die wir brauchen.

Diesem Projekt hat sich Erika Mann gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus gewidmet, als sie Escape to Life schrieben. Dieses schöne, traurige und lustige Buch ist ein zwar verspäteter, aber wahrhaftiger Versuch, die deutschsprachige Kultur zusammenzuführen in all ihrer Verschiedenheit und Differenz. Sie hielten darin das Gemeinsame fest, hielten fest, worum es tatsächlich geht. Sie hatten den Moment verpasst, vor dem Dunkel noch, eine breite Solidarisierung zu verfolgen. Aber sie wussten es nun besser und schrieben: „Die Zukunft Deutschlands, die Zukunft Europas, der Welt kann nicht durchaus düster sein, solange im Dienste dieser Zukunft ein paar stolze und reiche Geister sich tätig bemühen. Daß sie, diese wenigen, nicht erlahmen und tapfer ihr schweres, vielfach angefeindetes Werk weitertun – das ist eine Garantie. Eine Garantie – wofür? Für die unmittelbare Nähe des Goldenen Zeitalters? Für Ewigen Frieden auf Erden, der allen Menschenkindern solch ein Wohlgefallen wäre? Keineswegs. Aber eine Garantie dafür, daß der Kampf nicht ganz hoffnungslos ist; daß Ziele da sind, um derentwillen er sich lohnt.“

Zum Glück bringen auch heute Menschen andere Menschen zusammen, stehen ihnen bei, schützen und helfen und motivieren. Sie organisieren Proteste, leisten Aufklärung, stellen sich in den Weg, reden an, schreiben an, schreien an, halten den Hass aus. Sie geben ihrer Vision in Momenten und Inseln ein menschliches und ein konkretes, ein gegenwärtiges Gesicht. Nicht immer liegen sie nur richtig, nicht immer haben sie Antworten. Die Menschen, denen wir heute teilweise Denkmäler bauen, die wir zu Held*innen eindeutiger Lehren glätten, nach denen wir Straßen, Preise und Reihen benennen, waren so wie sie. So wie Erika Mann, die nicht unfehlbar war und auch keine Revolutionärin. Sie war ein Mensch, der angesichts der faschistischen Gefahr eine Entscheidung traf, der entschlossen war. Wir können uns auch entschließen, zu jedem Zeitpunkt, in jedem Moment. Ausgerechnet wir, vielleicht sogar gemeinsam.

Asal Dardan

Asal Dardan dankt Fabian Wolff für seine gedankliche Begleitung und seine kluge und großzügige Unterstützung beim Schreiben dieser Lecture.

 

 

Über
Asal Dardan
Erika Mann
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Vor dem Dunkel, ausgerechnet Wir

 

Erika Mann Lecture,
Ludwig-Maximilians-Universität,
10. Mai 2023

Ich hätte diese Erika Mann gewidmete Lecture bereits im Dezember halten sollen. Der Termin wurde verschoben und nun stehe ich also am 10. Mai in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität vor Ihnen – auf den Tag genau 90 Jahre, nachdem Studierende dieser Uni die Verbrennung von Büchern auf dem Königsplatz organisiert und durchgeführt haben. Andere Münchner*innen schauten zu und applaudierten.

Einer der Hauptverantwortlichen dieser Bücherverbrennung war der 28-jährige Hitlerjugend-Gebietsführer von Oberbayern. Er war einer jener, die die Werke von jüdischen Autor*innen und Wissenschaftler*innen, aber auch von Anarchist*innen, Kommunist*innen, Pazifist*innen und Demokrat*innen vernichten wollten – es wäre leichter gewesen zu sagen: von allen, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen. Sein Name war Emil Klein, er war bloß knapp einen Monat jünger als Erika Mann. Als er der NSDAP 1920, dem Jahr ihrer Gründung, beitrat, war er 15 Jahre alt. Er war später maßgeblich am Pogrom vom 9. November 1938 gegen jüdische Menschen in München beteiligt. Ab 1943 leitete er den Politischen Stab im Bayerischen Kultusministerium.

Bereits am 6. Mai hatte Emil Klein eine Ansprache auf dem Königsplatz gehalten, nämlich bei einer anderen Bücherverbrennung, bei der hauptsächlich marxistische Werke zerstört wurden. Der zweite Sprecher war der Lehrer und Stadtschulrat Josef Bauer, ein konservativer Bildungsbürger Anfang 50 und ein frühes Mitglied der NSDAP. Von 1933 bis 1937 war er Vorsitzender des Bayerischen Lehrervereins, dann bis 1945 Leiter des Münchner Stadtjugendamtes. Außerdem war er SS-Brigadeführer.

Diese beiden Männer waren keine berühmten, mächtigen Politiker. Sie waren schlicht vom ersten bis zum letzten Moment aktive Nationalsozialisten. Sie stehen exemplarisch für das, was die nationalsozialistische Bildungs- und Kulturpolitik ausmachte. Bauer wirkte daran mit, dass die folgenden Generationen so wurden wie der jüngere Klein: deutsche Menschen, die nichts weiter als ein Nazileben kennen sollten. Erika Mann hatte all dies bereits 1938 in School for Barbarians über die Erziehung der Jugend im 3. Reich auf sehr eindrückliche Weise beschrieben. Dennoch sollte nach Kriegsende jahrzehntelang debattiert werden, ob es sich tatsächlich alles so zugetragen hat. So als seien die Menschen, die dieses System getragen und ausgemacht hatten, plötzlich vom Erdboden verschwunden. Bauer und Klein starben jedenfalls beide in München, der eine im April 1958, der andere im Februar 2010 im Alter von 104 Jahren. Ein Leben, länger als die Zeitspanne, die uns vom 10. Mai 1933 trennt.

Als die beiden sich aufmachten, Feuersprüche zu rufen und unter anderem Bücher der Familie Mann auf den Scheiterhaufen zu werfen, war Erika Mann schon nicht mehr in Deutschland. In dem ebenfalls 1938 mit ihrem Bruder Klaus verfassten Buch Escape To Life antwortet sie auf die Frage, ob es ein schwerer, bitterer Entschluss gewesen sei, Deutschland zu verlassen: „Nein, es war nicht bitter. Bitter war, daß das Hakenkreuz herrschte. Wo es aber herrschte, konnte man nicht bleiben. Wegzugehen war nicht bitter.“

Diesen Moment, in dem sie einsah, dass sie nicht in einem nationalsozialistischen Land leben konnte und wollte, diese Entscheidung, lohnt es zu unterstreichen. Sie war – wie wir eingangs in ihren eigenen Worten hörten – bis kurz vor der so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht sonderlich an Politik interessiert. Sie war ein Kind aus prominentem, großbürgerlichem Hause, eine junge Schauspielerin in der Großstadt, eine abenteuerlustige Rennfahrerin und Weltenbummlerin. Ihr war egal, was Menschen von ihr hielten, sie musste niemandem gefallen. Gleichzeitig hielt sie sich fern von Dingen, die ihr nicht gefielen, allzu weltlichen, allzu wirklichen Dingen.

Der irische Schriftsteller Colm Tóibín sieht gerade in ihrer Verspieltheit und Libertinage den Ursprung ihrer späteren politischen Klarheit. So schreibt er in der London Review of Books über das Geschwisterpaar Erika und Klaus: “It was their silliness that made them serious. Once the right to go on being silly was threatened, they would respond with considerable urgency and earnestness.”

Im Januar 1933 gründete Erika Mann hier in München ein politisches Kabarett, das ein breites Publikum mit Witz und Hintersinn auf die große faschistische Gefahr aufmerksam machen wollte. Das Ensemble der Pfeffermühle agierte mit Vorsicht und doch mit spitzer Zunge, arbeitete mit Märchen und Parabeln, die in ihrer Botschaft allerdings unmissverständlich waren. Die Vorsicht half nicht, denn Erika Mann wurde auch so als Hetzerin und Zersetzerin beschimpft. Nach der erfolgreichen Premiere war allerdings Schluss. Einen Monat später brannte der Reichstag. Das Ensemble wusste: die Pfeffermühle konnte nur im Ausland weitermachen. Im Exil würde Erika Mann schreiben: „Viel zu spät haben wir unsere Kräfte gegen ihn [also Hitler] gespannt, unsere viel zu schwachen Kräfte.“ Mit Wir meinte sie vor allem die Intellektuellen, die Autor*innen, die Künstler*innen, die Theatermacher*innen.

Wie schwach diese Kräfte waren, also ob die Kulturarbeitenden der Weimarer Republik tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätten, als solche wirkungsvoll Widerstand zu leisten – wer weiß das schon? Wer weiß schon, ob Satire und Witz mehr als nur den eigenen Verstand retten, ob Literatur und Kunst mehr als nur flüchtige Eingebungen und Emotionen wecken.
Aber sie sind es, die meist als erstes angegriffen werden, die als erstes zensiert und zerstört werden. Als Autorin bin ich davon überzeugt, dass ihre Macher*innen damit auch zu den ersten gehören sollten, die sich einsetzen, sich zur Wehr setzen, die eine Entscheidung treffen.

Aus diesem Grund gruselt es mich, dass die deutschsprachige Kabarett- und Comedy-Landschaft, noch nicht einmal versucht, sich dem ambivalenten Erbe der Weimarer Zeit anzunehmen. Stattdessen werden ausgerechnet jene Gruppen, die bereits damals entmenschlicht und verhöhnt wurden, wieder zum Gegenstand ihrer Programme. Wir hören Witze über jüdische Menschen, über queere und rassifizierte Menschen, über Menschen mit Behinderungen. Es sind Witze über Minderheiten, über die diese Minderheiten selbst nicht lachen können. Und doch sollen wir glauben, dass dies etwas völlig anderes sei, dass es heute im Namen der Meinungsfreiheit und Demokratie geschehe, dass das doch die wahre Pluralität sei. Absurd und skandalös ist nicht, dass sie sich auf diese Weise zu verteidigen suchen. Absurd und skandalös ist, dass sie damit durchkommen.

Erika Mann sah, wie wir eingangs hörten, den Mangel an Vorstellungskraft, die zu lange währende Ignoranz und Gleichgültigkeit, als Verbrechen und Sündenfall. Der Philosoph Karl Jaspers, der zwei Jahre nach Kriegsende gemeinsam mit seiner jüdischen Ehefrau Gertrud Mayer aus Deutschland auswanderte, sprach auf sehr ähnliche Weise über diese – wie er es nannte – moralische Schuld. Jaspers zufolge trugen auch Menschen, die nicht im politischen oder juristischen Sinne schuldig waren, eine Mitschuld durch ihr Desinteresse an der Bedrohung anderer. Er sprach von einer Nachlässigkeit, die Bedrohten zu schützen, von einer „Phantasielosigkeit des Herzens“ und „inneren Unbetroffenheit von dem gesehenen Unheil“.

Erika Mann ließ die Fantasie irgendwann doch zu, ließ zu, sich betroffen zu fühlen. Selbstverständlich war sie es allein durch die jüdische Familie ihrer Mutter, etwas, das sie nicht thematisierte, weshalb ich nicht sagen kann, welche Bedeutung dieser Teil ihrer Herkunft für sie hatte. Sie fühlte sich als Künstlerin betroffen und nutzte das Exil, um als solche Widerstand zu leisten. Sie tat es, indem sie an ihrem Lebensstil festhielt, aber das, was ihr ohnehin lag, von nun an mit politischem und moralischem Anspruch verfolgte. Als es noch möglich war, zwischen den Kontinenten zu reisen, verbrachte sie die Sommer in Europa, um im Winter in hunderten Lectures überall in den USA über die Situation in Deutschland aufzuklären. Sie konnte es, es war ihr möglich – und doch ist es auch eine immense Hingabe, eine weitere Entscheidung, die eigene Zeit und Arbeit, die eigenen Ressourcen, den eigenen Körper für ein politisches Ziel einzusetzen. Sie war davon überzeugt, irgendwann sind die Deutschen besiegt. Bis dahin würde sie nicht aufhören, ihren Teil, ihren kleinen Teil, dazu beizutragen.

Nach Kriegsende hat sie Deutschland zwar immer mal wieder besucht – als Kriegsreporterin in US-Armeeuniform, als britische Staatsangehörige, die vom Nürnberger Prozess berichtete, als Reisebegleiterin ihrer Eltern. Aber sie ist nie wieder ganz zurückgekehrt, auch nicht in ihre geliebte Geburtsstadt München. Sie wurde, soweit ich weiß, auch niemals eingeladen, zurückzukommen. Und in gewisser Weise fühle ich mich etwas unwohl damit, hier zu stehen und daran beteiligt zu sein, dass man sie nun posthum zurückholt und für sich beansprucht. Menschen im Exil möchten nicht immer zurückkehren an den Ort, der sie in die Flucht trieb, der ihre moralische Integrität, ihre Sicherheit, ihre Freiheit, ihre Lebensgrundlagen bedrohte.

An dieser Stelle muss ich in die Gegenwart blicken, konkret und auch persönlich werden. Seit dem brutalen Mord an der Kurdin Jina Amini, seit der neuen revolutionären Bewegung im Iran, frage ich mich, ob ich überhaupt ein Anrecht habe, mich mit dem Land meiner Geburt und seinen Menschen in Verbindung zu bringen, indem ich die Rolle einer iranischen Exilantin spiele. Vor einigen Monaten saß ich auf einer großen Bühne mit anderen, die in Deutschland leben und eine biografische Verbindung zum Iran haben und fühlte mich deplatziert und anmaßend. Und auch verzweifelt, weil es dort sehr viel um diplomatische Strategien und politische Erwägungen ging und immer weniger um Werte und ich merkte, dass ich mich als Autorin schrecklich reduziert fühlte auf eine naiv wirkende Position, die zusammengefasst wohl lautet: Wenn eine Grenze erreicht ist, dann ist sie erreicht.

Ich ging von der Bühne, rang mit meiner Eitelkeit und meinem schlechten Gewissen und sagte mir, dass ich nie wieder über Politik reden wollte. Erika Mann, so scheint mir, hat sich für diese vermeintliche Naivität nicht geschämt. So werden wir es im Anschluss in einer Passage ihrer autobiografischen Notizen Ausgerechnet Ich hören, die Wiebke Puls vorlesen wird. Und vielleicht ist, im großen Kontext der Menschheitsgeschichte, die aufgeklärte Einsicht doch, dass man mit Mördern nicht verhandelt.

Ich rede hier also doch über Politik und auch über den Iran, weil letzte Woche der Schwede Habib Chaab vom iranischen Terrorregime hingerichtet wurde. Er lebte 14 Jahre in Schweden, er hat dort Kinder. Und dann wurde er 2020 bei einer Türkeireise entführt und in einem Schauprozess im Iran zum Tode verurteilt. Er wurde ermordet. Dasselbe droht nun dem Deutschen Jamshid Sharmahd. Er wurde im selben Jahr wie Chaab entführt, da war er in Dubai. Seine Tochter Gazelle Sharmahd setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass sein Leben gerettet wird, sie fühlt sich dabei nicht ausreichend vom deutschen Staat unterstützt. Sie unterstreicht, dass ihr Vater kein Deutsch-Iraner ist, nicht so genannt werden soll, bloß weil er im Iran zur Welt kam. Er hat das Land mit sieben Jahren verlassen, ist hier aufgewachsen, hat keine iranischen Papiere. Jamshid Sharmahd darf von seinem Staat nicht im Stich gelassen werden, so wie Habib Chaab von seinem im Stich gelassen wurde. Ein Menschenleben muss mehr zählen als Handelsbeziehungen. Die Realität eines jeden Lebens zählt.

Ich möchte Erika Mann, die tatsächlich auch für das Nachkriegsdeutschland sehr wenig übrighatte, den Gefallen tun, das Nachdenken über sie und das Denken mit ihr nicht glatter und geschmeidiger zu machen als es ihr und anderen Exilant*innen gebührt. Das ist eine widerständige Arbeit, weil das, was wir Erinnerungskultur nennen, oftmals zu dieser Glättung verleitet. Es gilt, aus der Vergangenheit zu lernen und weil mit Lernen eindeutiges Wissen und eindeutige Lehren verbunden werden, ist es oftmals eben recht eindeutig, eindringlich, eindimensional.

Zwei Beispiele, die mir einfallen, sind ein 2022 veröffentlichtes Kinderbuch, das die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger zur Heldin einer Geschichte mit dem zuckrigen Untertitel „Wie ein kleines Mädchen mit Glück und Gedichten am Leben blieb“ macht. Und eine Lesung aus dem letzten Interviewbuch der Musikerin und antifaschistischen Aktivistin Esther Bejarano, bei der ein Jahr nach ihrem Tod im Sommer 2021 u. a. die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit einem rechtsradikalen Sänger und einem mit rassistischen, anti-muslimischen Stereotypen arbeitenden Psychologen auf der Bühne sitzen sollte.

Klüger und Bejarano waren zwei Frauen, die wie Erika Mann nicht glatt und geschmeidig und auch nicht versöhnlich waren, schon gar nicht im Angesicht ihres politischen Gegners. Für sie gab es, und ich zitiere erneut aus Escape to Life: „keine Versöhnlichkeit mit jenen, die im Grunde nur den Krieg wollen“. Zum Pazifismus, so steht dort weiter, gehöre nicht nur Sanftheit, sondern auch Mut.

Erika Mann hatte zum Beispiel den Mut, ihrem verehrten Vater ein Ultimatum zu stellen: Sie würde den Kontakt abbrechen, wenn er weiterhin den zögernden, unpolitischen Künstler geben würde, statt sich offen gegen die Nazimachthaber auszusprechen und zur Emigration zu bekennen. Esther Bejarano hatte zum Beispiel den Mut, sich auch noch mit 79 Jahren den Wasserwerfern der Hamburger Polizei entgegenzustellen, weil diese ihren Protest gegen einen Naziaufmarsch auflösen wollte. Ruth Klüger hatte zum Beispiel den Mut, ihren Angriff gegen die Kontinuitäten des deutschen Kanons auch ins Private zu verlegen und öffentlich mit ihrem langjährigen Freund Martin Walser zu brechen, als er einen Roman schrieb, der, wie sie sagte, „bösartig und antisemitisch“ war und „aus bitteren, bösen Quellen“ schöpfte. Quellen übrigens, das zeigte Ruth Klüger in ihrer literaturkritischen Arbeit, aus denen auch Thomas Manns Doktor Faustus, 1947 also nach dem Krieg veröffentlicht, schöpfte.

Das sind drei anekdotische Momente im Leben dieser drei Personen. Sie waren in anderen Fällen noch mutiger und lagen in anderen bestimmt auch einmal falsch. Ihre prinzipielle Haltung aber, ihr Anliegen, galt der Verteidigung des Lebens – nicht nur ihres eigenen, sondern des Lebens an sich. Wofür sie sich einsetzten, war niemals das Spiegelbild dessen, gegen das sie sich widersetzten.

Das ist ein kritischer Punkt, wenn man auf Gewalt und Widerstand gegen Gewalt blickt. Zu oft wird gleichgesetzt, was niemals gleich ist. Weil verschleiert oder auch nicht erkannt wird, dass die Inhalte, Visionen und Ziele der einen, die Menschen schützen und stärken möchten, in einem absoluten Widerspruch zu den Inhalten, Visionen und Zielen der anderen stehen, die Menschenleben regulieren, kategorisieren und im drastischsten Fall vernichten wollen. In der Politik geht es schließlich um Visionen und ihre Durchsetzung, auch wenn häufig mit Haltungsnoten abgelenkt wird. Wie etwas ausgedrückt wurde, ist dann wichtiger als das Gesagte selbst. Antifaschismus wird zu Faschismus erklärt und Emanzipation zur Diktatur. Und ich weiß zwar, dass Widerstand nie eine Sache der Mitte und der Norm sein wird, dennoch frage ich mich, weshalb solche Formen persönlicher Integrität gesellschaftlich meist erst im Rückblick Anerkennung finden, während sie in der Gegenwart skandalisiert, kriminalisiert und auf übertriebene Regungen in einem Kampf zweier extremer Seiten, zweier vergleichbarer Kontrahenten, zweier Gräben reduziert werden. Die drei Frauen, von denen ich spreche, wussten es besser.

Klüger und Bejarano waren jünger als Erika Mann, sie waren als Jugendliche in deutschen Konzentrationslagern. Sie hatten Familienmitglieder – Geschwister und Eltern – die ermordet wurden, weil sie jüdisch waren. Allen direkten jüdischen Familienmitgliedern Erika Manns, den Geschwistern ihrer Mutter und ihre eigenen Cousins und Cousinen, gelang, soweit bekannt, die Flucht. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass auch Esther Bejaranos Eltern Deutschland verlassen wollten und mehrmals versuchten, zu fliehen. Aus bürokratischen Gründen gelang diese Flucht weder in die USA noch in die Schweiz. Ihre Leben, wie die Leben so vieler im Stich gelassener Flüchtender, hätte gerettet werden können.

Klüger und Bejarano hatten erlebt und bezeugt, woran die Denkmäler und Mahnmale in diesem Land erinnern sollen. Allein, dass sie heute stehen und von einer Mehrheit, von einem vermeintlichen Wir, akzeptiert und als wichtig betrachtet werden, ist Überlebenden und Aktivist*innen zu verdanken. Unter anderem erinnern sie also an die Bücher, die Menschen auf die mindestens 93 Scheiterhaufen in über 70 deutschen Städten warfen. Hierfür steht das Mahnmal am Königsplatz, das dort seit 2021 – erst seit 2021 – alle Titel der Schwarzen Liste zeigt, also jener Bücher, die verbrannt wurden. Oder das Denkmal auf dem Berliner Bebelplatz, das eine Inschrift mit dem berühmten Heinrich-Heine-Zitat trägt: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
Der Satz stammt aus Heines 1821 veröffentlichter Tragödie Almansor, gesprochen wird es von seiner Figur Hassan als Reaktion auf die Nachricht, dass die Konquistadoren in Granada den Koran in die Flammen eines Scheiterhaufens geworfen haben. Der Koran wird immer noch verbrannt, zuletzt im Januar in Schweden, wo ich wohne. Ein dänischer Rechtsradikaler stellte sich vor der türkischen Botschaft in Stockholm vor TV-Kameras auf, redete lang über seine Vorstellungen über den Islam und Migrant*innen und hielt dann sein Feuerzeug an ein Buch. Solche Aktionen werden abgetan als verwirrte Momente psychisch kranker Einzelpersonen, die nicht bedrohlich seien, da sie schließlich keine Staatsmacht repräsentierten. Es gibt jedoch Parteien und Politiker*innen, die sich zwar öffentlich niemals völlig gemein machen würden mit diesen Taten, die aber die Räume für sie öffnen. Manchmal tun sie es aus ideologischen Gründen oder aus purem Zynismus und Machtwillen, andere Male ist es eine Überforderung, ein Mangel an Vorstellungskraft, wie die Wirklichkeit anderer aussieht. Vor fünf Tagen hat Michel Friedman anlässlich des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im österreichischen Parlament den Mut bewiesen, genau das auszusprechen, als er sagte, ein „Wehret den Anfängen“ bedeute in einem Hause, in dem eine Koalition mit einer anti-demokratischen Partei eingegangen werde, nicht viel.

Um auch über Deutschland zu reden: Mich stößt es zutiefst ab, dass die CDU es nach dem politischen Attentat auf Walter Lübcke, diesem ungeheuerlichen Mord, nicht schafft, ihren Parteikollegen und seine Arbeit angemessen zu würdigen. Nicht, indem man ihn mal in einer Rede erwähnt oder ihm ein Denkmal baut, sondern indem man die Vertreter*innen jener Ideologie, die zu seinem Mord führte, konsequent und auch in der eigenen Partei bekämpft. Der CDU-Parteivorsitzende Merz und auch der neue Berliner Bürgermeister Wegner – unter anderem – spielen hingegen für Wählerstimmen weiter mit dem Feuer, verbreiten ausgrenzende und rassistische Vorstellungen, als seien es nicht genau diese Vorstellungen, die eine Rolle bei Lübckes Ermordung oder etwa auch beim Attentat in Hanau gespielt hätten.

Eine für Erika Mann zentrale Frage war, wie man den Unterschied zwischen Wissen und Sich-Vorstellen-Können überwindet. Wir wissen beispielsweise von dem, was uns mit der Vergangenheit verbindet, wie Vergangenes uns heimsuchen, sich in anderer Form wieder zeigen und aufrichten kann. Das sind so Sätze, die gemeinhin fallen. Und dann folgt schon seit Jahrzehnten: Nie wieder. Selbst die angesichts der Gegenwart anklagende Infragestellung des Nie-Wieder gehört bereits seit Jahren zum Ritual dazu.

Ich wünschte, es wäre so, dass alle Menschen, die diesen Ausspruch bemühen, die über das Wissen verfügen, weshalb er so wichtig ist, es tun, weil sie die Bedrohung einer Wiederkehr erkennen. Also, dass sie die Bedrohung konkret spüren, sich sagen, dass es sie und ihre Wirklichkeit betrifft. Dass sie wissen, dass nie wieder nicht bloß gesagt, sondern gelebt werden muss. Ich wünschte, sie alle hätten diese Vorstellungskraft, diesen moralischen Elan. Elie Wiesel sagte in einem Gespräch mit Jorge Semprún, das sie Ende der 1990er führten: „Alles sollte in die Gegenwart, in die Wirklichkeit geholt werden.“ Aus diesem Grund möchte ich fragen: Was ist verlorengegangen in den Flammen der Scheiterhaufen?

Es waren Schriften, die für eine Vielfalt standen, die verfolgt und vernichtet werden würde. Eine Vielfalt, die nach der Niederlage der Deutschen nicht einfach wieder da war, zurückkam, zum Leben erwachte. Weil die Menschen, die sie ausmachten, nicht mehr da waren. Im besten Fall hatten sie fliehen können und entschieden sich dann oft, nicht zurückzukehren – so wie Erika Mann. Aber Millionen wurden gejagt, deportiert, erschossen, erschlagen, zu Tode geschunden, gefoltert, vergewaltigt, vergast, verbrannt. Mit den brennenden Büchern wurden zwar noch keine Menschen ermordet, aber ihre Gedanken und ihre Lebensweise, ihre Identität und ihr Sein wurden angegriffen und zum Feind erklärt. Menschen wurden zu Körpern gemacht und ihre Körper wurden nach ideologischen Kriterien unterschieden, ganz gleich, was diese Menschen selbst über sich und ihre Körper und ihre Leben dachten. Mit diesen Unterscheidungen führten Lügen über den Wert, die Würde und die Lebensberechtigung dieser Körper und also dieser Menschen zu einer tödlichen Politik und Praxis.

In Berlin-Schöneberg, wo ich wohne, in der Münchner Straße zufällig, steht ein Denkmal für eine Synagoge, die während des Novemberpogroms verschont blieb. Sie überstand den Krieg, allerdings entweiht und beschädigt. In den 1950er Jahren wurde sie abgerissen, weil es keinen Bedarf für sie gab. Das Denkmal gilt also nicht nur den Folgen der Gewalt, die Menschen geschehen ließen und nicht aufhielten. An der sie sich beteiligten. Es gilt auch der Kontinuität.

Ein weiterer Zufall, eine weitere Kontinuität in diesem Land: Das hier in München stehende Denkmal, das den neun Opfern des OEZ-Anschlags vom 22. Juli 2016 gewidmet ist, steht in der Hanauer Straße. In Hanau wurden am 19. Februar 2020 ebenfalls neun Menschen in einem ebenfalls rassistisch motivierten Anschlag erschossen. Das ihnen gewidmete Mahnmal soll auf dem Hanauer Marktplatz stehen, aber die Stadtverordnetenversammlung blockiert das Vorhaben, weil dort ja bereits das Nationaldenkmal der Brüder Grimm steht.

Gibt es ein anderes Land in Europa, dessen Städtenamen für einen großen Teil der Bevölkerung eine andere Karte entwerfen als für die Mehrheitsgesellschaft? Diese Frage trage ich in mir, seit ich bei einem Abendessen über Dessau sprach und damit Oury Jalloh und Li Yangjie meinte, alle anderen am Tisch jedoch dachten, ich spreche über das Bauhaus. Der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh wurde 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt, die chinesische Studentin Li Yangjie am 13. Mai 2016 von einem Mann sexuell missbraucht und ermordet. Die Mutter und der Stiefvater des Mörders arbeiteten bei der Dessauer Polizei, die diesen Fall ermittelte.

Viele deutsche Städtenamen erinnern nicht nur mich vor allem an Menschen, die aus faschistischen Motiven gejagt und ermordet wurden, nicht mehr nur in Nazideutschland, sondern in unserer geteilten Gegenwart. Ich weiß nicht, was uns wohlfeile Erinnerungsrituale in dieser ständig wachsenden Landkarte des Schreckens bringen sollen, außer Schlaf und Entlastung.

Die Rettung einer Gesellschaft liegt in den Menschen, die sich entscheiden, diesen Kontinuitäten der Gewalt etwas entgegensetzen. Das ist keine Frage des Gutseins oder des Heldentums, sondern eine immer wieder gefällte Entscheidung – im Großen und im Kleinen. Immer wieder, weil der Kampf gegen Regression und Repression, gegen Kriegslust und Machtsucht, gegen Diskriminierung und Destruktion nicht enden wird. Man kann sich entmutigen lassen von der Unwahrscheinlichkeit, dass der Freiheitskampf, der emanzipatorische Kampf, jemals zu einer vollendeten Utopie der Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit führen wird. Darum bewundere ich jene, die nichtsdestotrotz weiterkämpfen im Chaos der Gegenwart, denn jede Gegenwart ist chaotisch, sie trägt noch nicht die Klarheit, die wir ihr, wenn sie zur Vergangenheit wird, überstülpen, sie führt noch in viele Zukünfte – auch solche, die im Rückblick die Fragen aufwerfen werden: Warum hat es so lange gedauert? Oder aber auch: Warum haben wir das zugelassen?

Heute Abend findet parallel zu unserer eine Veranstaltung im NS-Dokumentationszentrum statt, die sich mit der Verbrennung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft beschäftigt. Die Bibliothek wurde bereits am 6. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz vernichtet, das Institut wurde zerstört und aufgelöst. Gegründet wurde es 1919 von Magnus Hirschfeld, der als jüdischer Wissenschaftler ohnehin in Gefahr war, auch ohne Vertreter einer liberalen Sexualwissenschaft zu sein. Er war schon sehr früh Ziel von Hass und Häme, es gab gegen ihn gerichtete antisemitische und schwulenfeindliche Lieder und Karikaturen, es war eine medial geführte Hetzkampagne. Nach einem Vortrag in der Tonhalle hier in München im Jahr 1920 überlebte er einen Anschlag schwer verletzt. Da er zur Zeit der Bücherverbrennungen nicht in Deutschland war, konnte er entkommen. Er starb 1935 im französischen Exil.

Ich möchte über die Bewegung, deren Teil Hirschfeld war, sprechen. Durch die Arbeit von queeren Initiativen, Vereinen und Aktivist*innen hat Hirschfeld in den letzten Jahren eine immer breitere Beachtung gefunden. Er war eine zentrale Figur in der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung, unter anderem als Mitgründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, das mehrmals eine Petition zur Abschaffung des Paragrafen 175 einbrachte, dem Paragrafen, der Homosexualität kriminalisierte und damit die Verfolgung von Menschen legitimierte. 1929 errang das Komitee einen großen Erfolg, als der Strafrechtsausschuss des deutschen Reichstages beschloss, Homosexualität im geplanten neuen Strafgesetzbuch nicht mehr unter Strafe zu stellen. Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Der Paragraf ging nicht mit ihrer Niederlage, tatsächlich abgeschafft wurde er erst im Jahre 1994, Schuldsprüche wurden erst 2017 aufgehoben. Deutschland steht nun mit dem Selbstbestimmungsgesetz vor einem historischen Moment, derzeit sieht es leider so aus, als würde die Regierung regressiven Bestrebungen mehr Gewicht geben als der längst überfälligen Gerechtigkeit für trans Menschen.

In Escape to Life schreiben Erika und Klaus Mann in ihrem Kapitel ‚The Dead‘ über Hirschfeld: „Der sittliche Ernst dieses Forschers stand für jeden gerechten, ernsthaften Beurteiler außer Frage; jede Frivolität lag ihm fern; sein Lebenswerk ist bedeutend und übrigens erfüllt vom Geist einer echten Humanität, einer aktiven Sympathie für alles Menschliche.“

So kritiklos müssen wir nicht auf Hirschfeld blicken, um sein Lebenswerk zu würdigen. Heute sind sowohl seine medizinischen Praktiken wie auch seine wissenschaftlichen Thesen teilweise überholt. Vor allem seine eugenischen Ideen, die illustrieren, dass auch progressive Menschen nicht immer alle Gefahren ihrer Zeit erkennen. Doch Hirschfeld hat durch seine Arbeit gezeigt, dass Variationen von dem, was wir als Norm gesetzt haben, nicht pathologisch sind, dass sie wertfrei betrachtet und gelebt werden sollten. Es fühlt sich für mich absurd an, dass ich den folgenden Satz sage, dass ich den Eindruck habe, dass er heute hier gesagt werden muss: Weder schwule, lesbische und bisexuelle Menschen sind krank, noch sind es intergeschlechtliche, nicht-binäre und trans Menschen. Ich sage das, weil wir in einer Gesellschaft leben, die ein soziales und politisches Klima ermöglicht, die Gesetze mitträgt, durch die Menschen darin beschränkt werden, zu sein und zu leben, wer sie sind. Diese Menschen sind unter anderem auch Kinder und Jugendliche.

Es gibt eine globale Kampagne gegen trans Menschen, die ebenfalls in Deutschland ihre Wurzeln schlägt und behauptet, queere Menschen, insbesondere trans Menschen, seien eine Gefahr. Schauen Sie bloß auf die Diskussion rund um die geplante Lesung in der städtischen Bibliothek in München und wie sich der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns Aiwanger, der Oberbürgermeister Reiter oder der CSU-Generalsekretär Huber äußern über Dragqueens, die im Übrigen weder etwas mit trans Menschen noch mit Frühsexualisierung zu tun haben. Unter Frühsexualisierung verstehe ich nicht das Vorlesen von Büchern über Diversität, sondern etwa die Werbeplakate mit sexualisierten Körpern, die jedes deutsche Stadtbild prägen. Wir sind also nicht sehr weit gekommen und nun droht bereits, dass wir wieder zurückgehen.

Ich möchte noch über eine andere wichtige Figur der Bewegung sprechen, den Verleger Friedrich Radszuweit. Er war im Vorstand des Bundes für Menschenrecht, eine zweite wichtige Gruppe der Bewegung, die sich ebenfalls für die Abschaffung des Paragrafen 175 einsetzte. Außerdem gründete Radszuweit mehrere Zeitschriften für ein Publikum, das wir heute queer nennen würden, zum Beispiel „Das 3. Geschlecht“, mit Texten, die vornehmlich von trans Menschen für trans Menschen geschrieben wurden oder „Die Freundin“, das weltweit erste Magazin für Lesben.

Auch Radszuweit ist ein Vorreiter und doch muss gesagt werden, dass er sich schuldig gemacht hat. Er argumentierte etwa, dass die Rolle des SA-Stabschefs Ernst Röhm ein klarer Beweis dafür sei, dass die NSDAP trotz ihrer Propaganda keine homofeindliche Politik betreiben würde. Zugleich kritisierte er Hirschfeld immer wieder, wurde immer gehässiger und schärfer. Das hatte wohl nicht nur ideologische Gründe, weil Hirschfeld ein Sozialist war, sondern baute auch auf persönlichen Animositäten auf. Während also Erika Mann und Ruth Klüger das Politische nicht aus Beziehungen und Freundschaften heraushielten, suchte er einen politischen Drehpunkt für eine private Abneigung. Zum Beispiel machte er sich über den Münchner Anschlag lustig und behauptete, dass Hirschfeld der Bewegung durch seine öffentlich zur Schau gestellte Perversität schade. Er grenzte sich nicht nur von ihm ab, sondern rückte auch politisch immer weiter nach rechts. Da Radszuweit noch vor der Bücherverbrennung im Jahre 1932 starb, ist schwer zu sagen, ob und wann er seinen Fehler eingesehen hätte. Radszuweit fiel jedenfalls in die Falle der Verharmlosung und Kollaboration. Ihm war wichtig, öffentlich zu zeigen, dass er ein, wie er es ausdrückte, „anständiger Staatsbürger“ war. Akzeptanz war ihm wichtiger als Solidarität.

Das ist ein abgegriffenes Wort, Solidarität, und gleichzeitig mag ich, wofür es steht. Ich verstehe es nicht als Beschreibung eines Affekts, so wie ich Empathie oder Mitgefühl verstehe. Solidarität ist meiner Ansicht nach ein nicht endendes Projekt, das ohne andere nicht funktioniert, das ebenso Selbstdisziplin wie Zusammenarbeit erfordert. Bevor ich protestantisch klinge: Es bedeutet auch eine Entscheidung zu treffen für das Ungestüme, Ungewisse, nicht zu Ordnende des Lebendigen und des Menschlichen. In diesem solidarischen Suchen nach den anderen, nach ihren Wirklichkeiten, liegt die Gewissheit, die wir brauchen.

Diesem Projekt hat sich Erika Mann gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus gewidmet, als sie Escape to Life schrieben. Dieses schöne, traurige und lustige Buch ist ein zwar verspäteter, aber wahrhaftiger Versuch, die deutschsprachige Kultur zusammenzuführen in all ihrer Verschiedenheit und Differenz. Sie hielten darin das Gemeinsame fest, hielten fest, worum es tatsächlich geht. Sie hatten den Moment verpasst, vor dem Dunkel noch, eine breite Solidarisierung zu verfolgen. Aber sie wussten es nun besser und schrieben: „Die Zukunft Deutschlands, die Zukunft Europas, der Welt kann nicht durchaus düster sein, solange im Dienste dieser Zukunft ein paar stolze und reiche Geister sich tätig bemühen. Daß sie, diese wenigen, nicht erlahmen und tapfer ihr schweres, vielfach angefeindetes Werk weitertun – das ist eine Garantie. Eine Garantie – wofür? Für die unmittelbare Nähe des Goldenen Zeitalters? Für Ewigen Frieden auf Erden, der allen Menschenkindern solch ein Wohlgefallen wäre? Keineswegs. Aber eine Garantie dafür, daß der Kampf nicht ganz hoffnungslos ist; daß Ziele da sind, um derentwillen er sich lohnt.“

Zum Glück bringen auch heute Menschen andere Menschen zusammen, stehen ihnen bei, schützen und helfen und motivieren. Sie organisieren Proteste, leisten Aufklärung, stellen sich in den Weg, reden an, schreiben an, schreien an, halten den Hass aus. Sie geben ihrer Vision in Momenten und Inseln ein menschliches und ein konkretes, ein gegenwärtiges Gesicht. Nicht immer liegen sie nur richtig, nicht immer haben sie Antworten. Die Menschen, denen wir heute teilweise Denkmäler bauen, die wir zu Held*innen eindeutiger Lehren glätten, nach denen wir Straßen, Preise und Reihen benennen, waren so wie sie. So wie Erika Mann, die nicht unfehlbar war und auch keine Revolutionärin. Sie war ein Mensch, der angesichts der faschistischen Gefahr eine Entscheidung traf, der entschlossen war. Wir können uns auch entschließen, zu jedem Zeitpunkt, in jedem Moment. Ausgerechnet wir, vielleicht sogar gemeinsam.

Asal Dardan

Ich danke Fabian Wolff für seine gedankliche Begleitung und seine kluge und großzügige Unterstützung beim Schreiben dieser Lecture.

Erika-Mann-Lecture 2023: Stephan Höck, Fotografie